Unser diesjähriger Fachtag ist vorbei. Der Bienenstock und der eigene Kopf summen noch von den zahlreichen Eindrücken und Gesprächen. Ungeordnet und ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität ein paar persönliche Eindrücke.
Der neuland Fachtag ist mein liebstes Format: Kund*innen, Partner*innen, Freund*innen - alle treffen sich für einen Tag in unseren Firmenräumen, genießen spannende Vorträge und nehmen an Workshops teil, reden miteinander und hören einander zu, sehen alte Bekannte und lernen neue kennen, nähern sich Themen jenseits des Alltags an und versuchen sogleich das neue Hands-On in das eigene Tun zu integrieren. Und alle freuen sich zum Abschluss über Pecha Kuchas mit ernsten und leichteren Themen.
Das Motto: “AI-Commerce - Denkst Du noch oder generierst Du schon?”
Vielleicht ein bisschen viel schwedisches Möbelhaus, aber treffend die gegenwärtige Situation beschreibend: ein allgemeines Gefühl, “da passiert was Großes”, etwas Unsicherheit über die Anknüpfungspunkte und eine gewisse Dringlichkeit, die richtigen Antworten für die Verwendung von AI im eigenen Geschäft zu finden. Große Offenheit war zu spüren und Lust auf Wissen. Dazu ein witziges und funktionales Artwork von meinen Kollegen Marco Pantaleo und Fabricius Seifert. Veranstaltungstechnik, Ambiente, Catering, Hilfe, sobald man sie braucht: neuland at its best. Kleiner Wermutstropfen: sehr bilderlastiges Layout für Namensschilder mit kleinmieziligem Text bei längeren Zeilen. (Da konnte man aber schnell ein kontaktförderndes Feature draus machen: Brille auf, ranrücken, “darf ich mal lesen … ist so klein. Ah, jetzt seh ich's.”
Vortrag 1: Matthias Lau: Der Roboter in meinem Wohnzimmer
Tief vernetzter AI-Profi Matthias Lau, Gründer von Heureka Labs. Berichtete hörens- und sehenswert von der Reise eines Engineers in die Welt der DIY-Robotik. Von der Idee bis zum Produkt, vom Ansehen eines Erklärvideos über den Schraubenkauf bis zum freundlichen Robot mit echter AI. Mein Takeaway: Produkte erfordern ein vollständiges Ökosystem und das braucht Zeit. Lernen gehört dazu, Fehleinschätzungen ebenso. Und mit den frei verfügbaren AI-Bibliotheken und Vorprodukten wird aus einem niedlichen Modell schnell ein ernsthafter Anwendungsfall. Da ist eine Mauer durchbrochen. Unterhaltsam und inspirierend.
Vortrag 2: Sascha Netuschil: 7 Dinge, die ich bei bonprix über AI gelernt habe
Vom Engineer zum selbstbewussten Ingenieur ist es manchmal nur ein Vortrag. Sascha ist “Head of Data Science bei bonprix” und beackerte das Feld zusammen mit Kolleginnen und Kollegen schon lange bevor machine learning zur künstlichen Intelligenz umgelabelt wurde. Das o. g. Ökosystem technisch, fachlich und organisatorisch zu gestalten - davon handelt sein Arbeitsbericht. Aus dem Gefühl der Praktiker “Wir holen nicht alles aus den Daten, was drin ist” und "vagabundierenden fachlichen Aufgabenstellungen” entsteht das AI Ökosystem im Dreieck von Technik, Fachlichkeit und Organisation. Die Paradigmen der Produktentwicklung passen auch auf Datenprodukte. Dabei bewegen sich Entwickler*innen und Verwender*innen aufeinander zu - optimize (siehe agilefluency.org) wird möglich. Wirksame AI Teams bestehen aus Software(entwickelnden) und Mathematik(erinnen), die voneinander lernen. Spannend und lehrreich.
Vortrag 3: Susanne Nikoyo und Stefan H. Kuper: Wünsch Dir was - wie der Shop der Zukunft die Kund*in versteht
Ein schönes Beispiel für die Kraft der konkreten Lösungen (und des Beschreibung konkreter Probleme) lieferten Susanne und Stefan. Beide entwickeln mit und in ihren Teams insbesondere Suchsoftware, die den Nutzerinnen hilft. Wie man Distanzmaße für sprachlichen Kontext nutzen kann, um bessere und natürlich sprachliche Shopsuchen zu bauen, haben uns Stefan und Susanne gezeigt. Spannend zu sehen, dass das Vorgehen messbar besser funktioniert, universell anwendbar ist und mit diesem Modell sowohl Dinge besser gefunden, als auch bessere Dinge entdeckt werden können. Mein Merker: neue dialogische Suchen, Beratung und Assistenz sind keine Domäne menschlicher Akteur*innen mehr. Praktisch, ready to use und Horizonte eröffnend.
Takeaways des Tages
Wo stehen wir bei AI?
Unser Thema AI ist je nach Kenntnisstand der Betrachtenden sehr unterschiedlich auf der jeweiligen Hype-Skala verortet. Die gleichzeitig nebeneinander im Unternehmen existierenden, sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen machen eine Nutzung von AI bei unseren Kunden nicht einfach.
Die Demokratisierung in der Nutzung (u. a. durch die UI von Chat GPT) kontrastiert mit einer noch fehlenden Anwendersprache (und der damit verbundenen Fachlichkeit), während gleichzeitig die technische Front der “Applied AI-Science” mit rasender Geschwindigkeit nach vorne verschoben wird.
Jenseits der Technik wird das Buzzword der künstlichen Intelligenz et. al. für die Werbung für eine Kaffeemaschine mit automatischer Sortierung der meist gezogenen Kaffeespezialitäten genauso genutzt wie für die (schon länger etablierte) Analyse von Tabellendaten und Modellierungen auch jenseits von BI oder die neu und gerne auch etwas inflationär und unspezifisch angewendete Allzweckwaffe des neuronalen Netzes.
Bei unseren Kunden findet die AI-Verwendung vielfach noch “im Frühbeet” statt. Viele Pflänzchen dürfen wachsen, und welche sich als fruchtbringend herausstellen, welche nur hübsch anzusehen sind und welche irgendwo zwischen Bei- und Unkraut angesiedelt sind, wird man sehen - das aber sehr schnell. Und damit geht es vor allem um die Frage nach den zu lösenden fachlichen Problemen, wenn man nach der Anwendung von AI-Lösungen zur Förderung des Kerngeschäfts sucht. Oder um im Bild zu bleiben: gärtnerische Arbeit ist das Mittel der Wahl. Die Containerpflanzen der IT (aka: Kaufprodukte) bleiben eher Fremdkörper, passen nicht ins Ökosystem und bringen so wenig Ertrag. Sie füllen vielfach nur auf Zeit die Lücken in den unternehmerischen Gärten, die den Blick des Upper Management von der Freitreppe aus stören.
Wo liegen mögliche Wertbeiträge der AI?
Aus Vorträgen und Workshops scheint ein bekanntes Muster immer wieder auf: Mit den technischen Innovationen (auch der AI) werden große Datenmengen für Menschen handhabbar. Das ist keine exklusive Lösungskapazität von fancy-mehrdimensionalen Datenmodellen, hier gibt es auch viel Bewährtes aus der Statistik und Mathematik, das wertstiftend eingesetzt werden kann.
Handhabung setzt Verständnis voraus, und die wichtige Frage am Anfang jeder Lösungsentwicklung beginnt mit “Wofür” und “Warum” AI verwendet werden soll. Erst dann kann die Frage nach dem Instrument (also dem “Wie”) sinnvoll beantwortet werden.
Bei der Suche empfiehlt sich der Blick in die frei verfügbaren Komponenten. Vor-trainierte Modelle lassen sich mit wenig Aufwand für den eigenen Anwendungsfall nachjustieren. Wenn man die Modelle auch nicht im Einzelnen verstehen muss, sollte man doch verschiedene Lösungen testen und anhand des Effekts entscheiden. Mindestens die Wirkungen potenziell gravierenden Probleme möglicher Datenbias oder der AI-Halluzination lassen sich so minimieren.
Automatisch setzt sich AI dort durch, wo die Integration in vorhandene Arbeits- und Wertschöpfungsketten durch den Ersatz bisheriger menschlicher Arbeit durch Automatisierung möglich ist. Attributierung von Produkten aus unstrukturierten Daten, Übersetzungen in verschiedene Fremd- und Fachsprachen, Beratungs- und Suchassistenz sind heute schon Standard oder werden es schnell werden. Und die Verwendung von ChatGPT als persönlichen Assistent bei der Arbeit mit Anfragen und großen Textmengen ist viel rascher zum Normalfall geworden, als manche dachten, hofften oder fürchtete - die Nutzerzahlen und Nutzerzeiten sprechen eine deutliche Sprache.
Ausbildung, Fachlichkeit, maßstäbliche Checks und Balances müssen aktuell bei der Verwendung von AI im E-Commerce zum Standard werden. Und das gilt ja nicht nur, um potenziell halluzinierende Algorithmen unter Kontrolle zu halten, sondern bereits für die ganz normale Arbeit natürlicher Menschen. Allerdings ist das Pattern “Human in the loop” kein generelles und dauerhaftes Muster oder gar eine Lösung für alle Probleme. Je enger die Thematik, je spezifischer der Task, umso schneller werden die menschlichen Freigaben überflüssig oder wenigstens unbedeutender.
Was zu vermeiden ist (nicht nur bei AI)
Nur weil es ein Werkzeug gibt, sollte man sich nicht zwingend ein scheinbar dazugehöriges Problem einreden lassen. Auf der operativen Arbeitsebene werden Probleme gelöst; dort soll Instrumentenfetischmus keinen Platz haben. Für das Fachtagsthema heißt das:. AI kann, aber muss kein sinnvoller Lösungsbeitrag sein. Der sorgfältige Blick auf die Geschwindigkeit, den Aufwand und die Kosten ist zwingend notwendig, um nicht vorschnell oder gar falsch zu entscheiden. AI Einsatz ohne Messung der Aufwände und Effekte ist Verschwendung. Häufig ist eine Kombination bewährter Lösungen genauso richtig.
Wir diskutieren Softwareentwicklung häufig aus der Perspektive Effizienz und Subsidiarität - so auch hier: AI kann Dinge machen, die wir mit den bisherigen Lösungen nicht schaffen können. Sie einzusetzen, sollte aber erst nach der Suche nach vorhandenen, kostengünstigen und verstehbaren Lösungen entschieden werden. Dinge besser, schneller und kostengünstiger erledigen zu können, referenziert die AI als Produktivität steigerndes Instrument. Dabei sind Messungen zur Effizienz unabdingbar.
Oder kurz: “AI dort, wo es sinnvoll ist, nicht weil jemand ein Produkt verkaufen möchte.”
Und zum guten Schluss: Bemerkenswert
Der Workshop “Der E-Commerce Shop der Zukunft” von Anita Schüttler und Therese Flämig war als Planspiel zum Thema Circular Economy im E-Commerce aufgebaut.
Zunächst gab es eine kompakte Einleitung zur Circular Economy und ihrer Bedeutung für zukünftige Geschäftsmodelle. Viel Inhalt in wenigen Minuten.
Im Workshop selbst durften dann acht Gruppen mit jeweils drei bis sechs Personen ihre eigene imaginäre Firma gründen. Die Teilnehmenden hatten die Aufgabe, aus einem von uns erstellten Kartenset mit Aktionen für nachhaltigeres Wirtschaften fünf auszuwählen und diese dann zu einem passenden Geschäftsmodell zusammenzuführen. Dabei sollte auch auf benötigte Partner*innen und Software eingegangen werden. Am Ende präsentierten drei Gruppen die Ergebnisse und mussten Investor*innen, Kund*innen und Mitarbeitenden aus dem Publikum Rede und Antwort stehen.
Es zeigte sich, dass sich das Format super eignet, um in das Thema einzuführen, Konversationen anzuregen und in relativ kurzer Zeit Wissen zu vermitteln.
Mein Eindruck: Das machen wir jetzt öfter!
Ich freue mich auf den Fachtag 2024 und hoffe, dass wir die Diskussionen auch in der Zwischenzeit weiterführen können.