Nachdem wir Malmö im letzten Jahr mit vielen augenöffnenden Eindrücken im Gepäck verließen, konnten wir einem Besuch von The Conference auch in diesem Jahr nicht widerstehen. Vom 4.-5. September fand sie also statt im Opernhaus mitten im Zentrum von Malmö und eröffnete uns neue Perspektiven zu Komplexität und Trends in einer digitalen Welt.

Indy Johar - The Need For A Boring Revolution (Keynote)



Von der Notwendigkeit einer langweiligen Revolution spricht Indy Johar. Der Architekt und Leiter der „Dark Matter Laboratories“ beschäftigt sich mit den Auswirkungen der vierten industriellen Revolution auf die Gesellschaft und präsentiert in 45 Minuten Erkenntnisse aus jahrelanger Forschung.

Seine These: Wir dürfen Regierungen nicht abschaffen – wir müssen sie neu erfinden.

Die Überforderung der aktuellen Regierungsformen zeigt sich für ihn schon bei einem der wichtigsten Themen unserer Zeit: dem Klimawandel. Das Jahr 2018 hat in allen großen Städten der Welt zu mehr oder weniger drastischen Wetter-Ausreißern geführt, doch was sind die Gegenmaßnahmen? Wir verbieten die in diesem Zusammenhang schon fast metaphorischen Strohhalme. Indy fasst zusammen: „In the complexity of the challenge, we go for the obvious”.

Aber es ist nicht nur der Klimawandel – es ist auch der disruptive Wandel der Wirtschaft:

  • Einige Banken in Europa sind von 50 000 auf 800 Mitarbeiter geschrumpft.

  • 80% des Handels an der Börse sind machine-to-machine Trades - ohne menschliche Beteiligung.

Und der notwendige Wandel in Gesellschaftsthemen: Es ist keine zeitgemäße Maßnahme, junge Straffällige für 144.000 Dollar pro Jahr in einem Gefängnis einzusperren, wenn ein Jahr Yale 65.000 Dollar kostet.

Für Indy ist klar: Wir brauchen eine Grassroot-Bewegung, die das Mindset der Gesellschaft ändert. Wir müssen die gegenseitige Abhängigkeit erkennen und entsprechend handeln: Meine Realität hat direkten Einfluss auf deine. Mein Erfolg beruht hauptsächlich auf guten Beziehungen, guten Voraussetzungen, zu denen ich nichts beigetragen habe und nur zu einem kleinsten Teil auf meinem eigenen Talent. Das muss uns demütig machen und verantwortungsvoller.

Wir brauchen eine Regierung, die dieses Mindset unterstützt. Indy beschreibt diese Evolution in 3 Stufen:

  • Die erste Stufe: Ein reaktiv verbundenes Regierungssystem (klare Regeln, mit mildernden Umständen)

  • Die zweite Stufe: Technologie ermöglicht zielgerichete, fallgenaue und direkte Eingriffe der Regierung (bei Geschwindigkeitsübertretung wird das Auto abgestellt)

  • Die dritte Stufe: Die Regierung ermutigt zu mehr interdependentem Verantwortungsbewusstsein (Straßen ohne Gehwege, Rückzahlungen an die Gesellschaft, wenn der Wert des eigenen Hauses durch eine Straßenbahnanbindung steigt o. ä.)

Diese Revolution mag langweilig erscheinen, für Indy Johar ist sie aber ein möglicher, realistischer Weg, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen.

Shu Yang Lin - Broken Promise Land (Kurzvortrag)



Shu Yang Lin vom „PDIS“ in Taiwan lädt uns in ihrem Vortrag dazu ein, die Interaktion zwischen der zivilen Gesellschaft und der Regierung mittels Technologie umzudenken und liefert uns einen Prototypen für die zukünftige Demokratie.

Während 2014 Taiwans Studenten in der "Sonnenblumen-Bewegung" gegen ein Abkommen der Regierung protestieren und das Parlamentsgebäude in Taipeh besetzen, entscheidet sich die zivile Hacker-Community g0v, die friedlichen Vorgänge mitzufilmen und sie online transparent zu machen. Der Wunsch nach einer Plattform, die die Gesellschaft zu gemeinsamen Diskussionen nutzen kann, war so groß, dass g0v schließlich das Netzwerk "vTaiwan" ins Leben rief.

Das Experiment vTaiwan versteht sich heute als

  • eine interaktive Community-Umgebung, die den sich ständig weiterentwicklenden Konsens der Gesellschaft verfolgt,

  • ein "Open Space", der alle Teilnehmenden dazu einlädt, Teil der Diskussion von Inhalten, Prozessen und digitalen Tools (zur Förderung der Kommunikation) zu sein

  • und ist gleichbedeutend mit einer flexiblen Gestaltung der "Spaces" (offline und online); physische Räume werden um digitale Schnittstellen erweitert.

Bemerkenswert sind beispielsweise die speziell gestalteten Beratungsmeetings, die die Gesellschaft, Regierung, Stakeholder und Experten online wie offline an einen Tisch bringen. Über VR ist es remote möglich, in die physische Sitzung einzutauchen; Kommentare aus der digitalen Welt werden auch vor Ort verlesen. Auf diesem Wege werden die Menschen direkt in die Regierung gebracht, gleichzeitig erhalten Gesetzgeber ein größeres Maß an Legitimität. 26 Themen wurden so bereits diskutiert, fünf davon führten zu Gesetzesänderungen und 20 zu Regulierungsreformen. Dieser transparente, responsive und partizipative Prozesses ist der Kern der öffentlichen Beteiligung und der offenen Regierung.

"From reply to rewrite" ist zudem der Leitsatz bei allen Online-Konversationen. Kommentare können nicht beantwortet und Ideen somit nicht bewertet werden, sondern müssen neu geschrieben werden. Dies habe den Konsens in einem Maße beeinflusst, das die Meinung der Teilnehmenden nicht selten von einem zum anderen Ende migrieren ließ.

Der Prototyp vTaiwan wurde inzwischen global ausgerollt und von Städten wie New York, Toronto oder Tokyo adaptiert und reproduziert. Der Erfolg des Formats wird nach Lin nicht anhand der Anzahl umgesetzter Gesetze gemessen. Der Mehrwert entsteht aus dem Experiment selbst, welches sich als skalierbar und nachhaltig erwiesen hat und mögliche Antworten auf die Frage gibt, in welche Richtung wir uns als Gesellschaft bewegen und wie wir Technologie für uns nutzen wollen.

Stale Grut - Broken Promise Land (Kurzvortrag)


Wir alle kennen sie, provokative Titel, die zum Lesen von Artikeln animieren sollen. Ungelesen bieten sie jedoch das Potential für Zündstoff im Kommentarbereich, welches wiederum eine konstruktive Diskussion erschwert. Daraus entwickelte der junge Journalist Ståle Grut die Idee zu "Know2Comment" - einem Quiz, das die Kommentarfunktion eines Artikels erst freischaltet, wenn Lesende drei Fragen zum Text beantworten können. Das Quiz soll den Nutzer dazu bewegen, den Artikel zunächst komplett zu lesen und vor dem Kommentieren noch einmal innezuhalten. Die Debatten seien dadurch tatsächlich "gesünder" geworden.

Das Experiment führte aber zu einem weiteren überraschenden Ergebnis: Ein Großteil der Nutzer kommentierte nach dem Gelesenen nicht einmal mehr den Artikel - "Gamification by accident" nennt Grut den Effekt.

Mit "Know2Comment" wurde eine einfache Lösung zu einem komplexen Problem geschaffen. Grut hofft, damit künftig die öffentliche Debatte verbessern zu können. Der Code zur Funktion ist unter nrkbeta/nrkbetaquiz bei GitHub verfügbar.

Kevin Slavin - Design As Participation (Keynote)

Kevin Slavin, der sich selbst als +1 seiner Frau Lisa Mosconi bezeichnet, im Directors Office des MIT arbeitet und aktuell für das Projekt "The Shed" in New York steht, spricht in einem mitreißenden Talk über die Verantwortung, die wir als Designer von virtuellen Welten für unsere reale Welt haben.

Seine These: User Centered Design ist toxisch für unsere Welt. Wir brauchen Design, das nicht den User ins Zentrum setzt, sondern die Systeme, in denen wir leben. Wir brauchen ein Design, das Partizipation fördert und nicht Selbstzentrierung. Kevin Slavin legt dar, dass User Centered Design seine Berechtigung hat und für seinen ursprünglichen Anwendungsfall vollkommen adäquat war. Es ging darum, dass Menschen Computer benutzen - und dies sollte möglichst einfach sein. Wir benutzen heute jedoch nicht mehr Computer. Wir benutzen Computer, um die Welt zu benutzen - und an dieser Stelle wird User Centered Design zur Gefahr für uns alle.

Die Zentrierung auf den Nutzer versteckt die Systeme, mit denen er interagiert, und macht es ihm daher beinahe unmöglich, verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen. Robin Sloan sagt dazu: “I feel bad, truly, for Amazon and Sprig and their many peers - SpoonRocket, Postmates, Munchery, and the rest. They build these complicated systems and then they have to hide them, because the way they treat humans is at best mildly depressing and at worst burn-it-down dystopian.” Was wir statt eines freundlichen Amazon-Buttons brauchen, der die Arbeitsbedingungen bei der Herstellung, die Umweltschäden durch den Transport und die Nachhaltigkeit eines Produktes in sich kapselt und vor uns verbirgt, ist ein Design, das uns zur Partizipation, zur Verantwortlichkeit erzieht. Ein Design, das uns lehrt:

You are not stuck in traffic – you are traffic.

Beispiele für diesen Ansatz findet Slavin vor allem in der nicht-virtuellen Welt:

Kevin Slavin fasst zusammen: "We can build software to eat the world, or software to feed it. And if we are going to feed it, it will require a different approach to design, one which optimizes for a different type of growth, and one that draws upon - and rewards - the humility of the designers who participate within it."

Tendayi Viki - Innovation Is For Everyone (Kurzvortrag)


Ein Fehler, den Organisationen laut Tendayi Viki häufig machen: nach dieser einen großen Idee Ausschau halten. Dafür veranstalte so manches Unternehmen gerne mal ein "Innovation Theatre" - vom Unternehmensalltag abgekapselte Labs, in denen von Post-its zerschlissene Jeans und Whiteboards nicht fehlen dürfen und Windows PCs verpönt sind. Das Problem daran: Damit sprechen wir nur einem kleinen Personenkreis die Fähigkeit zu, innovativ sein zu können. Und es impliziert: neue Ideen zu finden ist eine Herausforderung.

Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass viele schlechte Ideen notwendig sind, um über eine gute Idee zu stolpern; ein Imperativ nach Viki. Die Schlüsselfrage laute daher: Ist im Unternehmen ein sich wiederholender Prozess etabliert, so dass jeder Mitarbeiter genügend Freiraum hat, um Ideen zu entwickeln und genau weiß, was zu tun ist, wenn er eine Idee hat?

Innovation ist für Viki ein Ökosystem-Ansatz, in dem es zumindest dreierlei Dinge bedarf:

  • Innovatoren managen: Innovation ist eine Explorations- und keine Execution-Challenge. Mit der Lean-Mentalität "build, measure, learn" lässt sich kein Businessplan schreiben. Das heißt im Umkehrschluss auch, in einem ersten Schritt viele kleine finanzielle Wetten einzugehen und dann den Wetteinsatz entweder zu erhöhen oder aus einem Investment auszusteigen.

  • Innovatoren unterstützen: Mitarbeiterinnen bilden sich in Kreativitätstechniken wie Lean Startup oder Design Thinking weiter, doch dann was? Vor allem sollten wir ihnen ermöglichen, das Gelernte im Alltag einsetzen zu können; das können sie wiederum nur mithilfe finanzieller Wetten. Außerdem kann ein etabliertes Support-System durch eine Gruppe von Katalysatoren/Coaches, die regelmäßig kritische Fragen aus Sicht des Nutzers (nicht des Investors) stellen, helfen, Projekte auch weiterzuführen.

  • Werkzeugkoffer für Innovationen: Wie soll man die Religion "Lean" (experimentiere, iteriere, scheitere schnell etc.) in die Gegenwart holen, wenn keine Rituale oder Tools in der Organisation verankert sind, die dieser entsprechen? Viki rät uns, unseren Mitarbeitenden einen Werkzeugkoffer mit an die Hand zu geben. (Er nennt hier IDEO als Ideengeber und verweist auch auf sein Buch "The Lean Product Lifecycle: A playbook for making products people want".)

Wir sollten uns also fragen: Was werden wir tun, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeitenden wissen, was sie bei einer Idee tun müssen? Denn bevor wir diese Frage nicht beantworten können, ist Innovation nicht für jedermann.

Ahd Camel - Odd camel from the magic kingdom (Kurzvortrag)



In ihre Vergangenheit entführte uns die Schauspielerin und Filmemacherin Ahd Camel in ihrem sehr persönlichen Talk "Odd camel from the magic kingdom". Sie durchläuft mit uns ihre Kindheits-Traumata und Lebensereignisse, die sie formten und veränderten.

Wir könnten versuchen, die Stimmung in diesem Vortrag hier wiederzugeben, möchten euch aber empfehlen, euch das kleine Meisterwerk des Storytellings selbst anzuschauen.

Die AutorInnen

Heiner Holzhüter
Sandra Kola
arbeitet seit 8 Jahren bei neuland als Projektleiterin und agiler Coach.
Simon Irsch
Berufseinsteiger als Software-Entwickler bei neuland im Jahr 2017. Hat seitdem gelernt, dass er lieber am Backend als am Frontend arbeitet und weiß die agile Arbeitsweise, Tests sowie "Clean Code" zu schätzen.