Das Agilitätsraster ist ein eigenentwickeltes Werkzeug, um die agile Arbeitsweise eines Teams in der Softwareentwicklung zu analysieren. In diesem Artikel geht es um die Klärung der Frage, was das Agilitätsraster genau ist und wie es entstanden ist.
Unsere Kollegin Jasmin Sommer, die seit 2018 in der Projektleitung bei neuland arbeitet, hat das Agilitätsraster für ihre Masterarbeit "Agilitäts-Ausprägungen in der Softwareentwicklung" 2019 erarbeitet. Ihr Gedanke dahinter war, die unterschiedlichen agilen Arbeitsweisen der Teams bei neuland im Zusammenhang mit deren Rahmenbedingungen aufzuzeigen - diese aber nicht nach gut oder schlecht einzuteilen. Mithilfe des Agilitätsrasters kann die Arbeit eines Teams analysiert - NICHT bewertet - werden.
Madita Thomas aus dem neuland PR-Team hat mit Jasmin über das Agilitätsraster gesprochen:
Madita: Was ist das Agilitätsraster eigentlich und gab es das vor deiner Erarbeitung im Rahmen der Masterarbeit schon?
Jasmin: Nein, so gab es das vorher tatsächlich noch nicht. Ich habe mir das für meine Masterarbeit zusammen mit meinem Professor und Dr. Jens Finke von neuland erarbeitet. Für meine Masterarbeit fand ich es sehr interessant, da alle Teams (auch bei neuland) unterschiedlich agil arbeiten. Da kam mir dann der Gedanke, die unterschiedliche agile Arbeitsweise und auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, in denen sich die Teams befinden, aufzuzeigen: Vielleicht kann man etwas Vergleichbares schaffen. Aber ich wollte die Arbeit nicht beurteilen oder einteilen, ob es gut oder schlecht läuft.
Als erstes habe ich geschaut, ob es überhaupt schon etwas gibt, um die agile Arbeitsweise eines Teams zu analysieren und habe dann letztendlich selbst ein Framework entwickelt. Und daraus ist dann das Agilitätsraster entstanden:
Mithilfe des Agilitätsrasters kann ich die Arbeitsweise eines Teams analysieren. Ich finde ganz wichtig, dass es um's Analysieren und nicht Bewerten geht, weil man zu Beginn vielleicht die Ambition hat, es muss alles zu 100% erfüllt sein, aber das ist gar nicht das Ziel. Das Agilitätsraster soll aufzeigen, wo ein Team gerade im Arbeitsprozess steht und zur Selbstreflektion und Kommunikation im Team beitragen.
Madita: Wie ist das Agilitätsraster aufgebaut?
Jasmin: Zu Beginn der Arbeit am Agilitätraster war mein Ziel, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden und die agile Arbeitsweise an sich zu untersuchen. Dieser gemeinsame Nenner ist das agile Manifest und dieses besteht aus zwei Seiten: den Werten, die als Grundsätze verstanden werden können und den Prinzipien, die als Leitsätze angesehen werden können.
Meistens ist es so, dass viele noch die vier Werte kennen, weniger kennen dann die zwölf Prinzipien (= Leitsätze). Ich habe die Werte und Prinzipien mal miteinander verglichen und geschaut, was sagt mehr aus? Haben sie einen Bezug zueinander?
Mein Paradebeispiel ist der vierte Wert (= Grundsatz): "Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans". Das ist noch recht allgemein. Das Prinzip, also der Leitsatz, der diesen Grundsatz unterstützt, ist hingegen "Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden." Das Beispiel zeigt, dass die Prinzipien (= Leitsätze) detaillierter sind als die Werte (= Grundsätze).
Ich soll also Anforderungsänderungen auch spät in der Entwicklung noch zulassen. Dabei geht es nicht um willkürliche Anforderungsänderungen, sondern diese, die einen Wettbewerbsvorteil bei Kund*innen hervorrufen. Meiner Meinung nach, können Teams also aus den Prinzipien wesentlich mehr für ihre tägliche Arbeit rausziehen, als aus den Werten.
Damit stand für mich fest: Die agilen Prinzipien sind der kleinste gemeinsame Nenner der agilen Arbeitsweise, aus dem die Teams auch noch etwas herausziehen können. Nun war die nächste Frage, wie ich das in eine Grafik bringen könnte.
Im Gefühl hatte ich, dass es wie ein Spinnennetz aussehen könnte. Dann kam ich schnell zur zweiten Frage: Wie kann ich den Erfüllungsgrad eines Prinzips messen? Wenn man mal genauer darüber nachdenkt, dann müssen agile Teams ja bereits diese agile Prinzipien in ihrer Arbeit umsetzen. Und wie tun sie das? In dem sie Frameworks wie Scrum nutzen. Doch arbeitet man nur agil, wenn man Scrum nutzt? Was genau steht hinter Scrum und wo ist die Verbindung zum agilen Manifest?
Wenn man sich das näher anschaut, stellt man fest, dass Frameworks wie Scrum eine Reihe an agilen Praktiken zusammenführen. Doch diese agile Praktiken können auch alleine, ohne das Framework, angewandt werden. Damit habe ich die Behauptung aufgestellt, dass agile Praktiken in irgendeinem Zusammenschluss die agilen Prinzipien umsetzen.
In einem langen iterativen Prozess habe ich dann untersucht, welche Praktiken auf welches Prinzip einzahlen und bin dazu gekommen, dass es in beide Richtungen gilt. Also eine n zu n (n:n) Beziehung. Eine Praktik kann auf mehrere Prinzipien einzahlen. Allerdings wird ein Prinzip nie von nur einer Praktik getroffen, sondern es umfasst mehrere Praktiken.
Nun musste noch bewertet werden, ob ein Team eine Praktik erfüllt oder nicht, hier habe ich wirklich klare Grenzen gesetzt. Bei der Praktik des Sprints im Team bspw. wird danach gefragt, ob das Team diese überhaupt durchführt und wie lange sie gehen. Ein Zeitraum von einer bis vier Wochen zählt hier als Sprint, ab fünf Wochen wird diese Praktik laut dem Agilitätsraster dann nicht mehr erfüllt. So habe ich für jede Praktik eine Grenze gesetzt, wann sie erfüllt ist und wann nicht, also nur ja oder nein. Dabei habe ich mich an Vorgaben aus bspw. der Literatur gerichtet.
Somit war der erste Entwurf des Agilitätsrasters erst einmal fertig für meine Masterarbeit. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass es sich mit der Zeit weiterentwickelt hat. Wir haben gemeinsam mit den Agilen Coaches bei neuland Praktiken neu hinzugefügt, andere verworfen, Prinzipien neu zugeordnet und eine Gewichtung der Praktiken je Prinzip eingebracht.
Außerdem haben wir das Agile Fluency Modell mit eingebracht, das aus vier unterschiedlichen Zonen besteht, in denen sich ein Team befinden kann. Das spiegelt genau wider, was mir bei der Erarbeitung des Rasters sehr wichtig war, dass das Team nicht immer 100% der Prinzipien (= alle Praktiken) erfüllen muss.
Jede Zone im Agile Fluency hat einen Input und einen Wert durch den Fokus des Teams:
- In der ersten Zone wird der Geschäftswert fokussiert.
- In der zweiten Zone wird die Auslieferung einer qualitativ hochwertigen Software fokussiert.
- In der dritten Zone wird die Verantwortung für die Auslieferung des bestmöglichen Produktes adressiert.
- Die vierte Zone geht bereits über das Team hinaus. Hier wird die Verbesserung der gesamten Organisation angestrebt.
Wir bei neuland haben öfter den Fall, dass wir in der Produktentwicklung raus sind, denn das machen die Kund*innen selbst. Das heißt, wir stecken häufig "nur" in der zweiten Zone, aber für uns ist das in diesem Fall dann genau richtig. Die Erkenntnis, dass es genau richtig sein kann, in manchen Prinzipien nicht 100% zu erreichen, wollten wir auch in das Agilitätsraster mit einbringen. Daher haben wir die zwölf Prinzipien den Zonen zugeordnet und die Achsen des Agilitätsrasters entsprechend des Agile Fluency Modells sortiert. Dabei ist uns aufgefallen, dass die Prinzipien des agilen Manifests nur die ersten beiden Zonen abdecken. Nun befinden wir uns bei neuland zwar häufig in einer der beiden Zonen, betrachtet man jedoch ein generelles Team auf der Teamebene, sollte die dritte Zone des Agile Fluency Modells auch im Agilitätsratser vorkommen. Somit haben wir eine 13. Aches zum Agilitätstraster hinzugefügt, welche die Optimizing Zone des Agile Fluency Modells widerspiegelt.
Die vierte Zone der Organisationsverbesserung haben wir weggelassen, da wir hier über die Teamgrenzen hinaus sind. Das Team versucht dort die gesamte Organisation zu verbessern und nicht nur sich als Team. Für uns ist das eine völlig andere Dimension als die vorherigen Zonen des Agile Fluency Modells.
Agilitätsraster & Agile Fluency zusammenführen:
Zusammenfassend ist es so:
Es gibt 13 Achsen im Agilitätsraster, das sind die Prinzipien des agilen Manifests plus eine hinzugefügte, aufgrund des Agile Fluency Modells. Die Achsen sind nach dem Agile Fluency Modell sortiert, also nach den unterschiedlichen Zonen, sowie der Nähe zueinander selbst. Und inwieweit ein Prinzip erfüllt ist, wird anhand der durchgeführten Praktiken bestimmt, die gewichtet auf die einzelnen Prinzipien einzahlen, deren Durchführung aber nur in ja oder nein eingestuft werden kann, es gibt also keine Abstufungen der Durchführung.
Das Ergebnisbild hat zwei Linien: Die Linie, die die agile Arbeitsweise des Teams aufzeigt. Denkt aber daran: Die Linie bewertet nicht, also nicht ein "ist agil oder ist nicht agil". Die zweite Linie stellt den organisatorischen Rahmen des Teams dar.
Ergebnisbild einer Analyse als Beispiel:
Lasst mich das an einem Beispiel erklären: Teilweise haben unsere Teams Vorgaben von einem Kunden, schließlich zahlt dieser für die Arbeit, die wir leisten. So könnte dieser, aus welchen Gründen auch immer, das Pair Programming untersagen. Es gibt hier also eine organisatorische Grenze des Teams. Diese wollten wir gerne mit darstellen, um dem Team Unterstützung zu bieten, mit der Organisation über diese Grenzen und die Auswirkungen der Grenzen zu diskutieren. Hier benötigt das Team also die Unterstützung der Organisation und kann es einfacher adressieren.
Fortsetzung folgt...
In einem zweiten Teil wird es um die konkrete Anwendung des Agilitätsrasters sowie Besonderheiten und die Zukunft des Rasters gehen. Außerdem wird Jasmin Sommer am 6. und 7. Oktober 2022 auf den XP Days in Stuttgart zu Gast sein und das Agilitätsraster vorstellen.
Für Fragen und weitere Informationen zum Agilitäsraster und der agilen Arbeitsweise stehen unsere Agile Coaches gerne zur Verfügung:
workshops@neuland-bfi.de
agilitaetsraster@neuland-bfi.de