Der Spagat des neuland-Geschäftsmodells aus den Augen eines Veteranen.
Menschen sind gute intuitive Grammatiker. Wir sprechen eine Sprache, ohne explizit über die Konstrukte dieser Sprache zu verfügen. Ja, mehr noch: die Sprache, die wir als erste lernen, unsere Muttersprache, ist die Sprache, deren Konstrukte wir uns spät oder nie aneignen. Wie steht es mit Geschäftsmodellen? Über Erfolg und Misserfolg eines Geschäftsmodells entscheidet die Selektivität des Marktes. Dabei spielt die Frage, ob ein Unternehmen sein Geschäftsmodell kennt, höchstens eine sekundäre Rolle. Die Frage, ob ein Unternehmen, auch langfristig, die Sprache des Marktes spricht, unterhält eine ähnliche Beziehung zum Geschäftsmodell wie die gesprochene Sprache zur Grammatik.
Wenn es erlaubt ist, den unscharfen Begriff Erfolg mit 'besteht bereits länger am Markt, wächst und macht Gewinn' zu übersetzen, ist neuland ein erfolgreiches Unternehmen. Obwohl ich von Anfang an dabei bin - ich habe mit meinen fünf Gesellschafterkollegen neuland vor elfeinhalb Jahren gegründet - dämmert es mir erst jetzt, wer wir sind und worin der Grund unseres Erfolges zu suchen ist. Einige Elemente unseres Geschäftsmodelles sind klar: ECommerce, Shopentwicklung, komplexe Integrationen. Einige Bausteine unserer DNA liegen auf der Hand: Autonome Teams mit eigener Kultur, kein Mittelbau - alle ins Operative verstrickt. Und einiges unterliegt der Konjunktur des Marktes: 'Standardshops', 'Eigenentwicklungen', Monolithen, Microservices. Aber die Frage, wie und vor allem warum das alles funktioniert, also die Frage nach der organischen Einheit dieser Bausteine und Elemente, konnte ich nie beantworten.
Was für den Ethnologen eine Selbstverständlichkeit ist, dass Fremdheits- und Differenzerfahrungen das Unmittelbare und Implizite sichtbar machen, musste ich erst lernen. Erst nach diversen Projekten, die immer mit Fremdheitserfahrungen starten, und durch große Projekte, die mit anderen Dienstleistern gemeinsam realisiert werden und so Konkurrenz und Differenz im Alltag erfahrbar machen, wurde mir klarer, wie wir funktionieren. Das Andere, Fremde, die Kontrastfolie, die ich im Folgenden nutzen möchte, um meine Erkenntnisse besser zu beschreiben, ist die IT-Abteilung des Kunden und die technologieorientierte Beraterfirma.
Unsere Projekte laufen in der Regel lange, sehr lange. Man kann es auch anders formulieren: Die Webshopentwicklung ist für uns wie eine langfristige Produktentwicklung und nicht wie ein kurzfristiges Projekt. Dass das etwas Besonderes ist, zeigte sich mir erst im Gegensatz zu den beiden anderen Modellen. Ich will versuchen, sie holzschnittartig, idealtypisch zu skizzieren.
Die IT-Abteilung des Kunden zeichnet sich in der Regel durch tiefes Domänenwissen aus. Die Implementierung der Fachkonzepte ist hier entstanden und, wenn überhaupt, sind hier die Sachzwänge bekannt, die erklären, warum so und nicht anders entschieden wurde. Der Herzschlag der IT-Abteilung ist der Herzschlag des Kunden. Der Rhythmus der Entwicklung hat sich über die Jahre mit dem Rest des Unternehmens synchronisiert. Die Abteilung weiß um ihre Bedeutung und macht in der Regel die Stabilität ihrer Prozesse zum wesentlichen Bezugspunkt ihrer Entscheidungen. Was für die Prozesse gilt, drückt sich oft auch in der 'Mentalität der Abteilung' aus. Selten findet man Menschen, die viele unterschiedliche Technologien und Fachlichkeiten erlernen wollen, in diesem Biotop. Tiefes Verstehen von Fachkonzepten setzt oft eine mehrjährige Sozialisation voraus. Zu Problemen mit ihrer IT-Abteilung befragt, nennen Unternehmen oft geringe Innovationsfreude, technologischen Konservatismus und - vor allem - langsame Prozesse.
Die technologieorientierte Beraterfirma funktioniert anders. Die Kolleginnen und Kollegen aus diesen Häusern haben viel gesehen und man hat den Eindruck, die Menge der in Produktion eingesetzten Technologien, von denen andernorts nur geredet wird, sei ihre interne Währung. Innovation und technologische Neugierde bilden den Resonanzboden für ihre aktuellen Projekte. In Zusammenarbeit mit diesen Unternehmen kann man viele Anregungen bekommen und es wird nie langweilig. Gleichwohl gibt es auch eine Schattenseite dieser Arbeitsweise. Die Durchdringung der Kundengeschäftsmodelle und die Nachhaltigkeit der Implementierungen lässt manchmal zu wünschen übrig. Das passiert nicht, weil sie eine böse Absicht treibt oder ihre Qualifikationen nicht ausreichen - das passiert, weil alles seinen Preis hat. Die Mühen der Ebene und die Rasanz der Bergetappe erfordern unterschiedliche Konditionen. Was in der einen Welt als Geduld erscheint, ist in der anderen Langeweile, was in der einen als riskantes Spiel verrufen ist, ist in der anderen das notwendige Maß an Frischluft.
Und neuland? Man ahnt es schon. neuland ist ein Hybrid. Je nach Standpunkt vereinigt es die positiven oder die negativen Seiten beider Modelle. Die einen sagen: neuland ist so träge wie eine interne IT, ohne deren Nähe zum Fachbereich zu haben. Die anderen sagen: neuland verbindet tiefes Domänenwissen mit moderater Innovation. Kurzum: 'It depends.' Was neuland auf jeden Fall ist, ist etwas Anderes. neuland institutionalisiert den Konflikt, der in freier Wildbahn durch das Zusammentreffen von IT-Abteilung und Beraterfirma ausgetragen wird. Unsere lang laufenden Projekte sichern die Tiefe der Domänenkenntnis und bilden den Boden für ein ureigenes Interesse an nachhaltigem Code. Die Vielzahl der Kolleginnen und Kollegen, die in anderen Projekten mit anderen Technologien unterwegs sind, die Menge an Innovationstagen und die Diskussionen in fachspezifischen Gilden bilden das Provokationspotential, sich nicht zu sehr im Status Quo einzurichten.
Wir zahlen einen Preis. Weil wir den Konflikt von Stabilität und Innovation institutionalisiert haben, haben wir keine einfache Identität. Der Riss, der Widerspruch von Stabilität und Innovation, geht durch jedes Team. Alle Rollen werden besetzt und so ringen die Innovatoren und Stabilisatoren miteinander. (Und in wessen Brust nur eine der beiden Seelen schlage, der - oder die - hebe die Hand.) Aber, und damit wären wir wieder beim Ausgangspunkt, in diesem Gegensatz liegt das Bewegungsgesetz unseres Unternehmens. Ob diese Erkenntnis etwas nützt? Sprechen wir besser, wenn wir um die grammatischen Konstrukte wissen, die wir permanent bemühen? Zunächst und zumeist wahrscheinlich nicht, aber in Streitfragen, wenn wir uns unsicher sind, wenn wir eine Entscheidung fällen müssen, kann es helfen, sich auf die Grammatik zu besinnen.
Post Skriptum: Dieser Text pauschalisiert, was sich nur in der angestrebten Selbsterkenntnis rechtfertigt. Innovation ist immer auch Thema einer internen IT-Abteilung, aber sie steht, anders als alle anderen Akteure, für die Stabilität der von ihr betriebenen Systeme. Domänenkenntnis und Stetigkeit kennen wir auch von Beraterfirmen, insbesondere, wenn diese langfristige Projektteams bei Kunden unterhalten, doch dort klagen auch sie oft über den umsichgreifenden Konservatismus. Und - last but not least - einige Kunden sind so groß, dass sie ganze Ökosysteme der Softwareentwicklung betreiben, in denen sich alle angesprochenen Mentalitäten mit eigenen Strukturen wiederfinden.