Warum tun sich Organisationen schwer mit Führung und warum sind Führungskräfte und Führung zwei Paar Schuhe?
neuland, die Firma, die ich vor 16 Jahren mit fünf anderen Kollegen gegründet habe, wächst. Heute arbeiten über 150 Menschen bei neuland. 16 Jahre - neuland steckt in der Pubertät: Selbstverständlichkeiten von gestern werden überdacht, das Verhältnis zur Welt neu bestimmt und Autoritäten in Frage gestellt. Kein Wunder, wenn Führung zum Thema wird. Die Geschäftsleitung fragt: 'Wie führt die Führung?', es gibt Coaching-Angebote unter der Überschrift 'Führung'. Ein Brainstorming des letzten Get_Together (monatlicher, firmenweiter OpenSpace) zum Thema 'Führung' zeigte die ganze Bandbreite des Begriffs: Von Visionen und Orientierung war die Rede, Entscheidungen wurden mit dem Begriff verbunden, die vielen Facetten der Teamentwicklung verwiesen auf Führung, Führung hieße zu motivieren, Führung sei eine Haltung, sei Autorität, sei Beispiel und wer führe sei Coach und für die Entwicklung Anderer verantwortlich. Kein Wunder, wenn die Menge dieser Ansprüche diejenigen belastet, die 'in Führung gehen' oder glauben gehen zu müssen.
Zeit, zurückzutreten und die Frage zu stellen: Was ist Führung? Dieser Text, der stark durch einen Aufsatz von Judith Muster u.a. inspiriert wurde (1), schlägt eine Definition vor. Mit ihrer Hilfe will er erklären, warum sich Organisationen mit Führung schwertun und warum Führungskräfte und Führung zwei Paar Schuhe sind. Auf postbürokratische Organisationen - neuland versteht sich als eine solche - soll ein Augenmerk gelegt werden. Im Resultat wird die Frage nach Führungsdefiziten so verschoben, dass neue Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden. (Warnung: Die Funktionsweise von Führung soll so freigelegt werden. Ein Maßstab für gute Führung ist das nicht.)
Führung als situativ erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten
Damit nicht der Eindruck entsteht, diese Gedanken zum Thema Führung seien in meinem Kopf gereift, starte ich mit einem längeren Zitat von Muster u.a.: "Führung wird als situativ erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten konzipiert, die sich in einer Sequenz von drei Ereignissen realisiert: Das Auslöseereignis ist eine soziale Situation, in der ein kritischer Moment entsteht, der Führung überhaupt notwendig macht (I). Darauf folgt ein kommunikativ erhobener Führungsanspruch, in dem Einflussmittel mobilisiert werden (II). Am Entstehen von Gefolgschaft (III) zeigt sich, ob Führung stattgefunden hat." (1, 285f)
Führung ist ein Phänomen der Interaktion: "situativ erfolgreiche Einflussnahme". Das ist eine wichtige Unterscheidung. Führung findet in der Interaktion zwischen Menschen statt, sie ist keine strukturelle Eigenschaft einer Organisation. Sie kann genauso in der Familie stattfinden wie im Freundeskreis und auch auf der Arbeit.(2) Um von Führung zu sprechen, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens ein "kritischer Moment". Das Handeln in der Situation hakt. Der 'normale Fluss' der Dinge hat ausgesetzt und es entsteht ein Vakuum. Der Tagesablauf stockt an einer Gabelung und die Gruppe steht vor einer Entscheidung. Zweitens: In dieser Situation erhebt eine Person einen Führungsanspruch. Sie versucht, die Situation in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie macht einen Vorschlag, sie fällt eine Entscheidung. Sie versucht, die Gruppe zum Folgen zu bewegen oder, wie es das Zitat sagt, "Einflussmittel" werden mobilisiert. Das kann ein Argument sein, das kann Autorität sein, ein Tauschhandel - wie auch immer, die Person versucht, die Gruppe für ihren Vorschlag zu gewinnen. Und wenn jetzt, drittens, die Gruppe der Person folgt, zeigt sich, ob tatsächlich Führung stattgefunden hat.
Mit dieser Definition können kleine und große Interaktionsphänomene in den Blick genommen werden. Wenn die Familie am Esstisch streitet, welches Spiel nach dem Essen gespielt werden soll, und die Mutter mit Verweis auf die letzten Spieleabende ihr Recht, die Wahl zu haben, durchsetzt, erfüllt das die Kriterien. Wenn die neuland-Gesellschafter:innen nach einem Proteststurm den Vorschlag machen, Schritte in Richtung einer Mitarbeitendengesellschaft zu gehen, und das als neue Geschäftsgrundlage akzeptiert wird, ist das ebenfalls Führung.
Betrachten wir die Bestandteile genauer. Was ist ein kritischer Moment? Intuitiv versteht man den Ausdruck. Irgendetwas ist in einer Situation problematisch, die Situation ist irgendwie offen. Die Verhaltenserwartungen, die die Gruppe bisher durch ihre Handlungen navigiert haben, werden unklar oder widersprüchlich, sie reichen nicht aus. Es herrscht Irritation, es ist nicht deutlich, was zu tun ist. Weder die formelle noch die informelle Ordnung, in der man sich immer bewegt, sagt, was zu tun ist. Es kann sich dabei um die vielen kleinen alltäglichen Brüche handeln: Das Team programmiert im Mob, ein Mitglied stört sich an einer Namensbenennung und macht sie zum Thema. Folgt die Gruppe dem Argument, wendet sie sich von der Funktion ab und der Benennung zu oder vertagt sie das auf später? Einen kleinen Moment wird das Weiter unscharf, einen kleinen Moment stehen zwei Alternativen im Raum. (Passiert das öfter, dann etabliert sich ein Muster, eine informelle Struktur.) Außergewöhnliche Ereignisse erzeugen kritische Momente ganz anderer Reichweite: Wenn eine Kundin auf einmal mit einem ganzen neuen Terminplan in ein Projektmeeting kommt: Die Bereichsleitung habe beschlossen, man solle doch mit dem Webshop zwei Monate früher online gehen. Das, was jetzt passiert, ist offen, ein Raum für Führung tut sich auf. Manche kritischen Momente sind durch die Organisation vorprogrammiert: Wenn in der Personen- und Projekte-Runde bei neuland über Teams für neue Entwickelnde diskutiert wird, wenn, allgemein gesprochen, um knappe Ressourcen konkurriert wird, lässt sich das Dilemma nicht nach Plan lösen und Führungsversuche sind gefragt. Kritische Momente sind keine objektiven Probleme, die Außenstehende markieren könnten. Sie sind soziale Konstruktionen der Beteiligten. Wenn eine Kollegin einen geregelten Handlungsablauf unterbricht und für eine Idee wirbt, es doch einmal neu, einmal anders zu versuchen, ist das ein kritischer Moment, und wenn ihr gefolgt wird, findet Führung statt. (3)
Die zweite Voraussetzung ist: Jemand erhebt einen Führungsanspruch und mobilisiert Einflussmittel. Diese Einflussmittel können Argumente sein, man versucht zu überzeugen. Es kann formale Macht sein: "Ich bin hier die Gruppenleiterin und sage, wo es lang geht." Es können wirtschaftliche Vorteile sein: “Wer in das neue Team wechselt, bekommt eine Prämie.” Es kann ein Tauschhandel sein: "Ich verzichte dieses Mal, dafür bekomme ich beim nächsten Mal ...", "Wenn wir mit unserem Team auf die dunkle Seite des Gebäudes ziehen, bekommen wir den hellen Konferenzraum exklusiv." Es kann ein Spiel mit Sympathie und Antipathie sein, das auf die Beliebtheit einzelner Personen verweist. Alle Spielarten von Macht fallen unter die Überschrift der Einflussmittel.
Die dritte Voraussetzung - Gefolgschaft - erklärt sich schon aus dem Wort: Führen heißt immer, dass andere folgen. Führung ohne Gefolgschaft kann unter der Rubrik 'netter Versuch', 'gescheiterte Führung' abgelegt werden.
Die drei Bestandteile sind notwendig, um von Führung zu sprechen. Ohne kritische Momente gibt es keinen Anlass zur Führung. Ohne eine Person, die einen Führungsanspruch erhebt und Einflussmittel mobilisiert, fände Führung nicht statt, und ohne Gefolgschaft wäre sie gescheitert.
Situative Führung und Führungskraft
Die erste Charakterisierung, Führung als Phänomen der Interaktion, deutet an, warum Organisationen Schwierigkeiten mit Führung haben. Organisationen sprechen von Führungskräften und meinen damit Personen, die Stellen besetzen. Benutzen wir für einen Moment, um den Gegensatz zur Führungskraft hervorzuheben, den Begriff der situativen Führung für das oben definierte Phänomen der Führung. Dieser unterstreicht, dass Führung als Interaktion das Agieren in einem kritischen Moment beschreibt. Ob die situative Führung gelingt, ob der Person, die Einflussmittel mobilisiert, gefolgt wird, ist jedes Mal offen. (Muss offen sein, sonst könnte nicht von Führung gesprochen werden.) Organisationen versuchen, dieser prinzipiellen Offenheit der situativen Führung durch Hierarchie zu begegnen. Sie können die situative Führung nicht kontrollieren. Sie installieren eine Hierarchie und verbinden mit Positionen in dieser Hierarchie Einflussmittel, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Führungskräfte in Situationen in Führung gehen. Man könnte von einem Trick sprechen, den Organisationen anwenden, damit die Personen, die sie auswählen, in kritischen Momenten mehr Einflussmittel zur Verfügung haben und eher Gefolgschaft erzielen. Grundsätzlich bleibt die Verfügung der Organisation und ihrer Hierarchie über kritische Momente und Führung prekär - sie kann nicht kontrolliert werden -, aber im Normalfall funktioniert die installierte Mechanik. Der Vorteil ist Effizienzgewinn. Nicht in jeder kritischen Situation muss neu ausgehandelt werden, wie verfahren wird. Es entsteht ein normaler Pfad der Auflösung solcher kritischen Momente. Kompliziert kann es werden, wenn situative Führung und Hierarchie auf unterschiedliche Menschen zeigen, wenn der Führungsanspruch der Führungskraft regelmäßig an der Situation scheitert und sich informell eine andere Struktur etabliert.
Für postbürokratische Organisationen stellt sich das Spannungsverhältnis von situativer Führung und Führungskraft besonders dar. Eine postbürokratische Organisation ist durch Enthierarchisierung und Dezentralisierung gekennzeichnet. Die formale Hierarchie ist geschwächt und abgeflacht. Viele Entscheidungen sind in die operativen Einheiten, die Teams, verlagert. Da sparsam mit expliziten Führungskräften umgegangen wird, sind die tatsächlichen Kommunikations- und Autoritätsverhältnisse auf den ersten Blick schwer zu erkennen. Es erfordert ein gewisses Eintauchen in die impliziten Strukturen, um sich in dieser Form der Organisation orientieren zu können. Gleiches gilt für die Einflussmittel. Ein Teil der klassischen Einflussmittel wird nur in sehr zugespitzten, grenzwertigen Situationen eingesetzt. Geld und disziplinarische Gewalt kommen nur zum Zuge, wenn andere Mittel versagt haben. Das typische Einflussmittel für diese Art der Organisation ist die Überzeugung. Da auf diesem Wege das Gros aller Probleme gelöst werden muss, also auch Arbeitskoordination und effektive Entscheidungsfindung, vermischt der betriebsinterne Diskurs Überzeugung mit anderen Mitteln verbaler Einflussnahme wie Autorität qua Seniorität oder Tauschhandel ('Hilfst du mir, helf ich dir'). Im internen Ringen um die richtige Position finden immer auch andere Machtressourcen ihren Ausdruck: Beziehungen zu wichtigen Akteur:innen der Umwelt oder internen Schlüsselpersonen, Kontrolle über fachliche 'Unsicherheitszonen', wie der Wartungsarbeiter, der über den Maschinenstillstand entscheidet. Diese Gemengelage ist nicht ausgehandelt oder entschieden, aber spürbar. Jedem Argument haftet ein 'woher es kommt' an. (Dass dem durch die weitere Verbreitung von Informationen und die partizipativere Entscheidungskultur auch eine stärkere Identifikation und oftmals kürzere Entscheidungswege gegenüberstehen, soll hier nur erwähnt, aber an anderer Stelle ausführlicher bewertet werden.) Kurz gesagt: Postbürokratische Organisationen haben durch die geringere Sichtbarkeit von Führungskräften und die Schwächung klassischer Einflussmittel geringere Möglichkeiten, den Gegensatz von situativer Führung und Führungskraft zu regulieren.
Führung, verstanden als Einheit der drei geschilderten Momente in der Interaktion (ich verzichte im Weiteren wieder auf das Attribut 'situativ'), kann jede Richtung annehmen. Sie kann in der Hierarchie von oben nach unten laufen - das klassische Bild von Führung. Sie kann seitlich passieren, im Team unter Gleichen, von einem Team gegenüber einem anderen - man spricht von lateraler Führung. Und sie kann sich in der Hierarchie von unten nach oben auswirken, bspw. durch die gezielte Weitergabe von Informationen - Einige sprechen von Unterwachung.
Neue Fragen
Ein ausgearbeiteter Begriff, ein Stückchen Theorie, kann kein praktisches Problem lösen. Wie sollte er? Aber er kann eine Fragestellung verschieben und Suchscheinwerfer im Praxisfeld neu justieren. So auch der Führungsbegriff. An die Stelle der diffusen Probleme mit Führung treten drei spezifischere Fragestellungen. Erstens: Was sind die kritischen Momente, in denen Führung versucht und als problematisch empfunden wird? Zweitens: Was sind die in der Organisation vorhandenen Führungsmittel? Drittens: Gibt es funktionale Äquivalente, um die kritischen Momente anders aufzulösen als durch Führung? Die dritte Fragestellung bedarf der Erläuterung. Wer Führungsprobleme nur als solche lösen will, hat eine zu enge Perspektive. Anstelle des Coachens, Schulens oder Empowerns der Führungskraft können sich auch andere Maßnahmen - funktionale Äquivalente - anbieten. Orientierungsprobleme bei der Arbeit können durch die Anweisungen einer Führungskraft geregelt werden, aber auch durch Prozessvorgaben. Motivationsprobleme lassen sich mit dem Charisma einer Führungsperson beheben, aber auch mit Geld. Identifikationsprobleme werden durch die Argumente einer Führungskraft adressiert, aber auch mit partizipativen Entscheidungsverfahren.
Allerdings - soviel zum Ende - eine neue Frage ist noch keine Antwort.
Anhang
(1) J. Muster, S. Büchner, T. Hoebel & T. Koepp 'Führung als erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten' in: Christian Barthel (Hrsg.), 'Managementmoden in der Verwaltung', Wiesbaden 2020
(2) Die ganze Tragweite dieser Feststellung, Führung als Phänomen der Interaktion, wurde mir erst in der Diskussion um diesen Artikel klar. In Anbetracht der unüberschaubaren Fülle von Literatur zum Führungsbegriff mutet es vermessen an, eine Definition des Führungsbegriffs vorzulegen, wie es die Autor:innen des zitierten Aufsatzes tun. Sie wissen darum und vertreten die These, dass das soziale Basisphänomen ‘Führung’ amorph und untheoretisiert sei. Sie konstatieren in der umfänglichen Literatur zum Thema Führung drei Ausweichbewegungen von diesem Basisphänomen: Betrachtungen von institutionalisierten Beziehungen, Betrachtungen von Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensweisen und Betrachtungen, die auf präskriptive Fragen abheben. (vgl. 1, 288f) Erst, so die These der Autor:innen, wenn das Basisphänomen genauer konturiert sei, könnten die organisationalen Konsequenzen analysiert werden. (1, 290) Erst in der Differenz von Interaktion und Organisation zeigt sich die Unbeständigkeit der Aneignung von Führung durch die Hierarchie.
(3) Das Wort Kritik geht hier wohl auf die griechische Wurzel zurück und meint ein Unterscheiden, ein Trennen. Die Offenheit der Situation, die Gabelung, die nicht geregelt ist, ist gemeint.